Atommüllreport: Länderbericht Türkei

Seit über 50 Jahren gab es immer wieder Pläne für den Bau eines Atomkraftwerks in der Türkei, die jedoch verhindert werden konnten bzw. aufgegeben wurden. 2010 wurden die Pläne wieder aufgegriffen, 2015 wurde der Grundstein für vier Reaktorblöcke in Akkuyu in der Provinz Mersin gelegt. Vier Reaktoren werden von der Akkuyu Nuclear Joint-Stock Company, einer 100%igen Tochter des russischen Staatskonzerns Rosatom errichtet und sollen bis 2028 nach und nach in Betrieb genommen werden. Am 19. Oktober 2023 wurde in Block 1 der erste 390-t-Kran für das Handling der Brennelemente eingebaut. Noch ist das Gelände eine riesige Baustelle. Dies hinderte den türkischen Staatspräsident Erdogan jedoch nicht daran, bereits im April 2023, zwei Wochen vor der türkischen Präsidentschaftswahl, das Atomkraftwerk offiziell einzuweihen. 

Akkuyu Nükleer A.Ş. (VOA) - Voice of America, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=68210535

Die Türkei verfügt über wenig Uranvorkommen. Derzeit ist ein Reaktor in der Türkei in Betrieb, der Forschungsreaktor der TU Istanbul. Ein weiterer wurde schon 1977 stillgelegt und abgebaut, eine dritter ist seit 2009 abgeschaltet. Die Region in der sich der AKW-Standort Akkuyu befindet, ist stark erdbebengefährdet. Das schwere Erdbeben von Anfang Februar 2023 bei dem über 4.000 Menschen starben, ereignete sich nicht weit entfernt, im Grenzgebiet dreier tektonischer Platten: Eurasische Platte, Arabische Platte und Afrikanische Platte. [1] Mit einer Stärke von 7,7 auf der Richterskala ist das Erdbeben das stärkste in der Region aufgezeichnete seit mindestens 1944. Das Beben war so stark, dass sogar die Sensoren in der ASSE II und in Morsleben ausgelöst wurden. [2] Das AKW Akkuyu ist nur für eine Erdbebenstärke von 6,5 auf der Richterskala ausgelegt. [3]

Strukturen

Erbauer und Betreiber: Akkuyu Nuclear Joint-Stock Company. Die Reaktoren in Akkuyu werden von der eigens dazu gegründeten Akkuyu Nuclear Joint-Stock Company gebaut, die das AKW anschließend auch besitzen, betreiben und eines Tages zurückbauen soll. Das Unternehmen gehört derzeit zu 100 Prozent zu Rosatom. Langfristig sollen mindestens 51 Prozent der Firmenanteile in Besitz des russischen Staatsunternehmens bleiben. [4] Die Akkuyu-Projektvereinbarung sieht vor, dass die Akkuyu Nuclear Joint-Stock Company auch für die Entsorgung radioaktiver Abfälle verantwortlich sein wird. [5]

Aufsicht: Türkiye Atom Enerjisi Kurumu (TAEK, Türkische Atomenergiebehörde), untersteht seit 1982 dem Ministerpräsidialamt. [5] Die TEAK hat auch die beiden Forschungsreaktoren TR-1 und TR-2 betrieben.

Uranabbau

Bisher findet kein Uranabbau in der Türkei statt. Die Türkei verfügt in fünf Regionen nur über insgesamt rund 12.000 Uran, die abgebaut werden können. Das Uranerz hat eine Urankonzentration von 0,1 Prozent oder deutlich weniger. Zum Vergleich: Das Uranerz aus der Cigar Lake Mine in Kanada hat einen Urangehalt von bis zu 13 Prozent. Die türkischen Vorkommen liegen damit am unteren Ende der wirtschaftlich förderbaren Reserven. [6]

Uranverarbeitung

Am Çekmece Nuklearforschungs- und Bildungszentrum (CNAEM) im Istanbuler Stadtbezirk Küçükçekmece wird seit 1986 eine Pilotanlage für nukleare Brennstofffertigung betrieben. [5]

Es gab zwei Uranerzverarbeitungsbetriebe die endgültig abgeschaltet sind:

  • Koprubasi Pilot Plant in Manisa-Koprubasi. Betrieb 1974 bis 1982
  • MTA Technology Lab in Ankara. Betrieb 1987 bis 1990. [5]

Brennelementfertigung

"Der Vertrag zwischen Rosatom und der Türkei für Akkuyu sieht ebenfalls die Errichtung einer Brennelementfabrik in der Türkei vor." [4]

Atomkraftwerke

Nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen über den Einstieg der Türkei in die Atomenergienutzung schloss die türkische Regierung am 12. Mai 2010 ein Abkommen mit Russland über den Bau von vier Reaktorblöcken in Akkuyu. [7] Der Baustart wurde mehrfach verschoben. In einem Referendum stimmten im Jahr 2000 85 Prozent der Bevölkerung von Akkuyu gegen die Pläne, zwei Kilometer entfernt von ihrem Ort ein Atomkraftwerk zu errichten. Daraufhin wurde das Projekt gestoppt und erst 2006 von der AKP-Regierung weiterverfolgt. [8]  Am 14. April 2015 wurde der Grundstein gelegt. [9] Der tatsächliche Baubeginn für Block 1 war dann erst am 2. April 2018. [10]

Am 14. März 2016 unterzeichnete das türkische Kabinett eine Anordnung, die die staatliche Netzbetreiberin TEIAS ermächtigte, die Eigentümer*innen zu zwingen, ihr Land entlang der geplanten Übertragungsleitung von Akkuyu zu verkaufen. [11]

Um tatsächlich mit dem Bau der Atomkraftwerke in Akkuyu beginnen zu können, wurden  bis 2018 noch drei Gesetze geändert bzw. aufgehoben: Das Gesetz, das ursprünglich die Rodung der geschützten Olivenbäume am Standort verbot, das Gesetz, das Veränderungen der Küstenlinie untersagte, was für den Bau der Kühlwasserkanäle aber nötig ist und das Gesetz, das ausländischen Stromproduzenten verbot, in der Türkei Strom zu verkaufen. [12] 

Am 27. April 2023 feierte Staatspräsident Erdogan die Einweihung des ersten Atomkraftwerks in der Türkei. Erdogan: "Unser Land ist in die Liga der Nationen mit Atomkraft aufgestiegen, wenn auch mit 60-jähriger Verspätung".  [13] Am gleichen Tag und damit zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl, wurden die ersten Brennelemente in Akkuyu angeliefert. Tatsächlich soll nach Informationen der deutschen Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) Akkuyu 1 erst in zwei Jahren seinen Betrieb aufnehmen. [4]

  • Erbauer und Betreiber:
  • Baubeginn: Block 1  3. April.2018, Block 2 8. April 2020, Block 3 10.März 2021, Block 4: 21. Juli 2022 [3]
  • Reaktortyp: 4 x WWER-1200/509 mit 1.200 MWe Leistung
  • Finanzierung: Die Anlage wird von Rosatom gebaut und betrieben und bleibt im Besitz Rosatoms. Der türkische Netzbetreiber TETAS wird 70% der Stromproduktion von Block 1 & 2 für USD 12,35 ct/kWh für 15 Jahre, oder bis 2030 abkaufen. Die Produktion der Blöcke 3 & 4 wird nur zu 30% mit dieser Einspeisevergütung für 15 Jahre bedacht. Die Reststrommengen müssen am Markt verkauft werden, nach dem Vergütungszeitraum der gesamte Strom. Der Betreiber muss erst nach 15 Jahren 20% seines Profits an den türkischen Staat abführen. [10]
  • Kosten: bis zu 25 Mrd. US Dollar (Schätzung 2013) [3]
  • Geplante Inbetriebnahme: Akkuyu 1 2025, dann schrittweise Inbetriebnahme der Blöcke geplant, zuletzt  Akkuyu 4 in 2028 [4]

In der Vergangenheit waren noch weitere Atomkraftwerke in Planung. Nachdem bereits mit Südkorea, China und Kanada Verhandlungen geführt worden waren, unterzeichneten die Türkei und Japan am 1. April 2015 einen Vertrag über den Bau von vier Reaktoren in Sinop an der Schwarzmeerküste. Das AKW sollte von Mitsubishi Heavy Industries (MHE) Itochu Corp. in Kooperation mit der französischen AREVA errichtet werden. Im Dezember 2018 zogen sich die japanischen Partner aber aus finanziellen Gründen aus dem Geschäft zurück. [14] 2015 war sogar ein dritter Standort, Igneada ebenfalls an der Schwarzmeerküste, benannt worden. [15]

Atomwaffen

Die Türkei besitzt derzeit keine Atomwaffen. Die Errichtung der Atomkraftwerke und die Zusammenarbeit mit Russland könnte aber der Einstieg in die militärische Nutzung der Atomenergie sein. Anlässlich eines Wirtschaftsgipfels erklärte Erdogan 2019, dass es inakzeptabel sei, dass manche Länder Atomwaffen besitzen würden, die Türkei jedoch nicht. [16]

Forschungsreaktoren

Die Forschungsreaktoren TR-1 und TR-2 sind Teil des staatlichen Çekmece Nuklearforschungs- und Bildungszentrum (CNAEM), Istanbul. Der Forschungsreaktor ITU-TRR wird von der Universität Istanbul betrieben.

Forschungsreaktor TR-1

  • Betreiber: TEAK
  • Aufsicht: TEAK
  • Inbetriebnahme am 27. Mai 1962
  • Typ: Schwimmbadreaktor
  • Leistung 1 MWth
  • Abschaltung und Abbau 1977 [17]

Forschungsreaktor TR-2

  • Betreiber: TEAK
  • Aufsicht: TEAK
  • Inbetriebnahme 1981
  • Typ: Schwimmbad
  • Leistung 5 MWth
  • Status: Abgeschaltet seit 2009 [18]
  • Umrüstung: Der TR-2 produzierte medizinische Isotope unter Verwendung von hoch angereichertem Uran (HEU). Der Reaktor wurde 2009 für Um- und Nachrüstungen abgeschaltet. Gleichzeitig wurde der Betrieb auf schwach angereichertes Uran (LEU) umgestellt. Am 12. Oktober 2010 wurde das HEU in das Ursprungsland USA zurückgeführt. Die TAEK bemüht sich um eine Betriebsbewilligung für die Wiederinbetriebnahme. [19]

ITU TRR

  • Betreiber: Istanbul Technical University
  • Aufsicht: TEAK
  • Inbetriebnahme 11. März 1979
  • Typ: Triga Mark II
  • Leistung: Dauerbetrieb 250 kWth, Pulsbetrieb 1200 MWth
  • Status: In Betrieb [20]

Atommülllagerung

Die Akkuyu-Projektvereinbarung sieht vor, dass die gegründete „APC-Gesellschaft“ (Akkuyu Nuclear JSC) als Genehmigungsinhaberin und Betreiber für die Stilllegung des Kernkraftwerks und die Entsorgung radioaktiver Abfälle verantwortlich sein wird. Ein Konzept, wo und wie der Atommüll gelagert werden soll, ist nicht vorhanden. Stattdessen wird das Problem klein geredet. "Atomphysiker Yilmaz Kaptan von der Istanbuler Kemerburgaz-Universität hält diese Frage für nebensächlich: „Natürlich ist die Frage nach der Entsorgung von Atommüll ein Problem. Aber die Abfälle eines Reaktors in einem ganzen Jahr würden nicht mehr als einen fünf Quadratmeter-Raum füllen. Man könnte sie in der direkten Umgebung des Kraftwerks lagern." [8]

Probleme mit radioaktiven Abfällen existieren jedoch bereits jetzt. 2012 wurde auf der Deponie der Bleihütte Aslan in Gaziemir illegal gelagerter Atommüll entdeckt. Der Atommüll besteht laut Angaben der türkischen Atomaufsichtsbehörde TAEK hauptsächlich aus Europium-152 und -154, künstlich entstandene Radioisotope in Spaltprozessen von Uran und Plutonium. Europium wird wegen seiner sehr guten Neutronenabsorptionseigenschaft in den Kontrollstäben eines Atomkraftwerks benutzt. Eu-152 und -154  sind Beta- und Gamma-Strahler. Nach längerer Auseinandersetzung konnte erreicht werden, dass der Müll nicht einfach freigemessen, sondern zu 90% gesammelt und ohne Freimessen entsorgt wird. [21] Woher der radioaktive Abfall stammt und wo er derzeit liegt ist unklar.

Quellen

[1] Bundesgesellschaft für Endlagerung mbH (BGE): Schwere Erdbeben in der Türkei - geophysikalische Messanlagen der BGE lösen aus, 08.02.2023

[2] GFZ Potsdam: Geofon, abgerufen 26.10.2023

[3] Wikipedia: Kernkraftwerk Akkuyu, Stand 28.04.2023

[4] Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS): Kernenergie in der Türkei, Stand 04.07.2023

[5] Bundesamt für kerntechnische Entsorgungssicherheit (BfE): Stilllegung kerntechnischer Anlagen in Europa, August 2019

[6] Nuclear Free Future Foundation: Türkischer Uranatlas, 06.02.2023

[7] Akkuyu Nuclear Rosatom: About the Company, abgerufen 26.10.2023

[8] Deutschlandfunk: Die Türkei wagt den Atomeinstieg, 26.05.2015

[9] Nuklearforum Schweiz: Grundsteinlegung für Akkuyu, 17.04.2015

[10]  nucleopedia.de: Kernkraftwerk Akkuyu, abgerufen am 25.10.2023

[11] Nuklearforum Schweiz: Türkei: Stromleitung für Akkuyu, 18.04.2016

[12] Nuklearforum Schweiz: Türkei: Akkuyu-Verzögerungen entfallen, 03.08.2016

[13] Deutsche Welle: Erstes Atomkraftwerk der Türkei eingeweiht. 27.04.2023

[14] Wikipedia: Kernenergie in der Türkei, Stand 03.09.2023

[15] Nuklearforum Schweiz: Türkei: Standort für drittes Kernkraftwerk benannt, 20.10.2015

[16] Erdogan denkt laut über türkische Atombombe nach, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.09.2019

[17] IAEA Research Reactor Database TR-1, abgerufen 25.10.2023

[18] IAEA: Research reactor Database: TR-2, Turkish reactor 2, abgerufen 25.10.2023

[19] Nuklearforum Schweiz: IAEO: Peer Review für Forschungsreaktor in der Türkei, 18.05.2017

[20] IAEA: research Reactor Database: ITU-TRR, abgerufen 25.10.2023

[21] IPPNW.de: Was passiert mit dem illegalen radioaktiven Müll im türkischen Gaziemir? Juli 2016