Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergiepolitik

Im Zusammenhang mit der Beratung der zweiten Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung beschloss der 8. Deutsche Bundestag am 29.03.1979 die Einrichtung einer Enquete-Kommission „Zukunft der Kernenergiepolitik". In ihrem ersten Zwischenbericht 1981 am Ende der 8. Wahlperiode kam die Kommission mehrheitlich zu dem Ergebnis, dass die Nutzung der Atomenergie für eine sichere Energieversorgung nicht vonnöten sei. In ihrem zweiten Bericht 1982 kam die Kommission mehrheitlich zu dem Ergebnis, dass der Betrieb des Schnellen Brüters in Kalkar politisch zu verantworten sei.

Entstehung

In der zweiten Hälfte der 70er Jahre erstarkte die Anti-Atomkraft-Bewegung in der BRD. Bauplatzbesetzung in Wyhl, Großdemonstrationen an anderen geplanten AKW-Standorten wie in Grohnde und Brokdorf sowie die Auseinandersetzungen um das geplante Nukleare Entsorgungszentrum in Gorleben stellten den weiteren Ausbau der Atomenergienutzung in Frage. In der Bundesregierung wurde diskutiert, andere Energietechnologien und Energieeinsparung in der Öffentlichkeit zu betonen, um den Ausbau der Atomenergie nicht zu gefährden. [1] 

Im Zusammenhang mit der Beratung der zweiten Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung beschloss der 8. Deutsche Bundestag am 29.03.1979 die Einrichtung einer Enquete-Kommission „Zukunft der Kernenergiepolitik“.

Konstituierung 1979

09.05.1979, während der 8. Wahlperiode (WP)

Auftrag

„Die Kommission hat die Aufgabe, die zukünftigen Entscheidungsmöglichkeiten und Entscheidungsnotwendigkeiten unter ökologischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und Sicherheits-Gesichtspunkten national wie international darzustellen und Empfehlungen für entsprechende Entscheidungen zu erarbeiten.

In diesem Rahmen hat die Kommission insbesondere

  • Empfehlungen für Kriterien und Maßstäbe für die Akzeptanz der Kernenergie zu erarbeiten und unter dem Aspekt der langfristigen Sicherung des weltweiten Energiebedarfs Möglichkeiten und Risiken anderer Energieträger vergleichend einzubeziehen;

  • Möglichkeiten und Notwendigkeiten alternativer Brennstoffkreisläufe unter Einbeziehung der Zwischenergebnisse bzw. Ergebnisse der Internationalen Konferenz zur Bewertung der Brennstoffkreisläufe (INFCE) aufzuzeigen;

  • für die zukünftigen Entscheidungen des Deutschen Bundestages über die Brutreaktortechnologie; insbesondere für die mögliche Inbetriebnahme des SNR 300, Empfehlungen zu geben;

  • mögliche Auswirkungen der Energietechnik auf das gesellschaftliche Leben darzustellen und Vorschläge zur Verhinderung von Fehlentwicklungen zu machen;

  • Möglichkeiten und Konsequenzen eines zukünftigen Verzichts auf Kernenergie darzustellen und zu bewerten.“ [2] 

Erneute Konstituierung 1981

15.06.1981, aufgrund des Diskontinuitätsprinzips endete die Enquete-Kommission automatisch mit Ende der 8. Wahlperiode (WP). Eine Fortführung in der 9. WP bedurfte eines neuen Beschlusses des Deutschen Bundestages.

Auftrag 1981

Der grundsätzliche Auftrag blieb gleich, die Schwerpunkte verschoben sich hin zur Bewertung weiterer Reaktorlinien und der Betrachtung von Krieg und Sabotage

  • die von der Enquete-Kommission ,Zukünftige Kernenergie-Politik' des 8. Deutschen Bundestages empfohlenen Gutachten zum SNR 300 (Obergrenze bei Bethe-Tait-Exkursion, Risikoorientierte Studie) auszuwerten und eine Empfehlung zur möglichen Inbetriebnahme des SNR 300 bis zum 31. Juli 1982 zu erarbeiten,

  • die möglichen alternativen Folgelinien des Leichtwasserreaktors, insbesondere den Schnellbrutreaktor und den Hochtemperaturreaktor, zusammen mit ihren notwendigen und möglichen Brennstoffkreisläufen zu bewerten und eine Empfehlung zur Reaktorstrategie und den dazugehörigen Brennstoffkreislauftechnologien für den Fall einer umfangreichen Kernenergienutzung (im Sinne von „Kernenergie II") zu erarbeiten,

  • die möglichen Auswirkungen verschiedener nationaler Energieversorgungsstrukturen auf das gesellschaftliche Leben, die Volkswirtschaft, die Umwelt und die Sicherheit von Gesundheit und Leben auch im Hinblick auf Krieg, Sabotage, Terror und plötzlichen Ausfall wichtiger Energieversorgungssysteme aufzuzeigen und mit Hilfe der ,Kriterien zur Bewertung von Energiesystemen' Vorschläge zur Verhinderung von Fehlentwicklungen bei der Energieversorgung zu machen,

  • Nutzen und Risiken der Kernenergie für die weltweite Energieversorgung, insbesondere in den Entwicklungsländern, aufzuzeigen und Vorschläge für eine Verminderung der Proliferationsgefahr zu machen,

  • strittige Fragen zum Risiko der radioaktiven Strahlung bei der zivilen Kernenergienutzung aufzuzeigen und dazu Stellung zu nehmen. [3]

Angegliedert an

Deutscher Bundestag

Zusammensetzung

7 Abgeordnete

  • Ludwig Gerstein (CDU)
  • Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP), 04.02.-17.11.1994 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft [4]
  • Peter W. Reuschenbach (SPD) bis 12.12.1982, Josef Vosen (SPD) ab 13.12.1982
  • Harald B. Schäfer (SPD), 11.06.1992-11.06.1996 Minister für Umwelt Baden-Württemberg. [5] Harald B. Schäfer war erklärter Atomkraftgegner, erteilte aber in seiner Amtszeit die Dauerbetriebsgenehmigung für das AKW Obrigheim [6]
  • Dr. Lutz G. Stavenhagen (CDU), 04.09.1985-1987 Staatsminister im Auswärtigen Amt, 12.03.87-03.12.1991 Staatsminister im Bundeskanzleramt und Geheimdienstkoordinator [7]

nur 8. WP

  • Paul Gerlach (CSU)
  • Reinhard Ueberhorst (SPD), Ueberhorst stand dem Ausbau der Atomenergie kritisch gegenüber, 1981 Senator für Gesundheit und Umweltschutz in Berlin. [8] 2015 kritisierte er die Öffentlichkeitsbeteiligung der Kommission Lagerung hochradioaktiver Abfälle als eine simulierten gesellschaftlichen Verständigung und Gegenmodell den essenziellen Prinzipien einer demokratischen Atommüllpolitik. [9]

nur 9. WP

  • Rudolf Kraus (CSU)
  • Dr. Klaus Kübler (SPD)

8 Sachverständige in der 8.WP, 9 Sachverständige in der 9.WP:

  • Prof. Dr. Dr. Günter Altner, Theologe und Biologe, Mitbegründer des Öko-Instituts Freiburg, engagiert im Widerstand gegen das AKW Whyl [10]
  • Prof. Dr. Adolf Birkhofer, Physiker, em. Prof. der TU München, Gründer und bis 2001 Leiter der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (1977), Gründer des Institute for Safety and Reliability (ISaR), Präsidiumsmitglied des Deutschen Atomforums, Birkhofer war maßgeblicher Autor der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke 1979 Sie kam zu dem Ergebnis, dass mit einem Kernschmelzunfall nur einmal in 10.000 Reaktorbetriebsjahren zu rechnen sei, dass es aber nur bei jedem hundertsten Kernschmelzunfall zu ernsten Folgen für die Bevölkerung käme. [11]
  • Prof. Dr. Dieter. von Ehrenstein, Universität Bremen, Atom- und Kernphysik, Atomkraftkritiker
  • Prof. Dr. Wolf Häfele, Leiter des Karlsruher Schnellbrüter-Projekts und Promotor der Brütertechnologie in der BRD [12 Radkau S. 220ff.], 1981-1990 Vorstandsvorsitzender der Kernforschungsanlage Jülich, 1991 – 1996 Direktor des Forschungszentrums und des Vereins für Kernverfahrenstechnik und Analytik (VKTA) Rossendorf, Gründer, Vorsitzender und Ehrenmitglied der Kerntechnischen Gesellschaft, einer Organisation des Deutschen Atomforums [13]
  • Prof. Dr. Klaus-Michael Meyer-Abich, Universität Essen, Physiker und Naturphilosoph, 1984 – 1987 Senator für Wissenschaft und Forschung in Hamburg, beschäftigte sich damals mit Energieinspar-Szenarien [14]
  • Alois Pfeiffer, geschäftsführender Bundesvorstand des Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB), Pfeiffer war ganz auf der offiziellen Gewerkschaftslinie für den Ausbau der Atomenergie, Widerstand dagegen bezeichnete er als „bremsenden Hickhack“ [15]

nur 8. WP

  • Prof. Dr. Klaus Knizia, Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen AG (VEW), er trieb v.a. Den Bau des THTR Hamm-Uentrop voran [16]
  • Prof. Dr. H. Schaefer, TU München, Energiewirtschaft und Kraftwerkstechnik, galt als „energieneutraler“ Sachverständiger [17 Altenburg S. 117]

nur 9. WP

  • Prof. Dr. Hans Michaelis, Honorarprofessor an der Universität zu Köln, bis 1945 Referent beim Reichskommissar für die Preisbildung, 1959 bis 1967 Generaldirektor für Wirtschaft der Europäischen Atomgemeinschaft, 1968 bis 1971 Generaldirektor für Forschung und Technologie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften [18] 
  • Prof. Dr. H. K. Schneider, Universität zu Köln, Energiewirtschaft und Energiepolitik
  • Dr. Wolfgang Stoll, Alkem GmbH in Hanau. Stoll vertrat die These, dass ein Atombombenbau mit Reaktorplutonium nicht möglich ist. [19]

Vorsitzende: Rainer Überhorst (8. WP), Harald B. Schäfer (9. WP)

stellv. Vorsitzender: Dr. Lutz G. Stavenhagen

Arbeitsweise

Die Enquete Kommission Zukünftige Kernenergiepolitik war die erste Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages für die ein eigener wissenschaftlicher Stab eingerichtet wurde. Zuvor griffen die Kommission auf den wissenschaftlichen Dienst des Bundestages zurück. Das Sekretariat bestand aus 6 MitarbeiterInnen aus dem Umfeld des Deutschen Bundestages und 7 externen Mitarbeitern. [17]

Die Kommission untersuchte vier alternative Energiepfade:

Pfad 1 ungebremstes Wirtschaftswachstum mit steigendem Energieverbrauch, massiver Ausbau der Atomenergie, Bau eines Schnellen Brüters und einer Wiederaufarbeitungsanlage

Pfad 2 Schwierigkeiten bei der Energiebeschaffung führen zur Strukturwandel der Wirtschaft, reduziertes Wirtschaftswachstum mit reduziertem Energiebedarf, starke Energieeinsparung durch rationelle Energieverwendung, geringerer Ausbau der Atomenergie

Pfad 3 gleiche ökonomische Entwicklung wie bei Pfad 2 aber gleichzeitig steigende Kritik an der Nutzung der Atomenergie, Ausstieg aus der Atomenergie bis zum Jahr 2000

Pfad 4 gleiche ökonomische Entwicklung wie bei Pfad 2 und 3 bei maximalem Einsatz regenerativer Energien und dem Verzicht auf Atomenergie [2]

Ergebnisse:

Am 27.06.1980 legte die Enquete-Kommission der 8. WP einen Zwischenbericht vor. Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder war darin zu dem Ergebnis gekommen, die Nutzung von Atomenergie sei nicht unbedingt notwendig; bei Verringerung des Energiebedarfs und einem Ausbau von alternativen Energien sei ein Ausstieg möglich. Zudem empfahl das Gremium, bis zum Jahr 1990 keine endgültige Entscheidung für oder gegen Atomkraft zu treffen, sondern beide Optionen offen zu halten. [20]

Die Kommissionsmehrheit empfahl, die Arbeit in der nächsten Legislatur fortzusetzen. Im September 1982 legte die Enquete-Kommission ihren Bericht zum Schnellen Brüter in Kalkar vor. Sie kam mehrheitlich zu dem Ergebnis, „daß das Risiko aus dem Betrieb des SNR 300 in der gleichen Bandbreite liegt wie jenes der in Betrieb befindlichen Leichtwasserreaktoren. Die Kommission hält deshalb die Inbetriebnahme des SNR 300 politisch für verantwortbar.“ [21] 

Weitere Ergebnisse wurden infolge der durch das Misstrauensvotum verkürzten Wahlperiode nicht vorgelegt.

Ende

22.03.1982 (Zwischenbericht)

Kritik

„Obwohl die Arbeit der Enquete-Kommission in der Öffentlichkeit viel Resonanz fand, blieb die konkrete Umsetzung ihrer Empfehlungen schwierig - oder erwies sich als langwieriges Unterfangen. […] Das Vorhaben, den "Schnellen Brüter" in Kalkar in Betrieb zu nehmen, wurde 1991 endgültig aufgegeben - die politischen Bedenken und die Zweifel an seiner wirtschaftlichen Notwendigkeit konnten auch in 20 Jahren Bauzeit nie ausgeräumt werden.“ [20]

Quellen

[1] Vermerk an den Bundskanzler für ein Gespräch mit niedersächsischen Landespolitikern und BM Hauff am 24.4.1979 über das NEZ Gorleben

[2] Deutscher Bundestag: Bericht der Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik" über den Stand der Arbeit und die Ergebnisse“ Drucksache 8/4341, 27.06.1980

[3] Deutscher Bundestag: Bericht der Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik" über den Stand der Arbeit“ Drucksache 9/2438, 24.03.1983

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Karl-Hans_Laermann

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Harald_B._Sch%C3%A4fer

[6] „Harald B. Schäfer – der Rauflustige an Teufels Kabinettstisch“, badische zeitung, 24.01.2013

[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Lutz_Stavenhagen

[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Reinhard_Ueberhorst

[9] Reinhard Ueberhorst: „Demokratische Atommüllpolitik oder Zustimmungsmanagement und simulierte gesellschaftliche Verständigung – eine kritische Wahrnehmung der Arbeit der StandAG-Kommission“ in strahlentelex Nr. 686-687 / 08.2015

[10] „Trauer um Günter Altner, Mitbegründer des Freiburger Öko-Instituts“ badische zeitung, 21.12.2007

[11] „Still verdunsten“, Der Spiegel, 20.08.1979

[12] Joachim Radkau: „Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft“, Reinbeck bei Hamburg 1983

[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Wolf_H%C3%A4fele

[14] https://de.wikipedia.org/wiki/Klaus_Michael_Meyer-Abich

[15] „Auf dem Weg zum Rechts-Staat?“, Der Spiegel, 14.11.1977

[16] https://de.wikipedia.org/wiki/Klaus_Knizia

[17] Altenburg, Cornelia: „Kernenergie und Politikberatung – Die Vermessung einer Kontroverse“, Bielefeld 2009

[18] http://wissen-europa.de/fileadmin/user_upload/website/Artikel/Artikel_1987-88/Die%20Autoren.pdf

[19] Christian Küppers, Michael Seiler: "MOX-Wirtschaft und Proliferationsgefahren" in Wissenschaft & Frieden, 1994-3

[20] Deutscher Bundestag: „Jenseits der Tagespolitik – Die Enquete-Kommissionen Teil 2“

[21] Deutscher Bundestag: Bericht der Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik" über die Inbetriebnahme der Schnellbrüter-Prototypanlage des SNR 300 in Kalkar“, Drucksache 9/2001, 27.09.1982