Unsichtbare Opfer der Atomkraftnutzung - Zusammenfassung des Berichts

von Thomas Dersee

Die Verteidiger, Propagandisten und Lobbyisten der Atomindustrie lassen nicht locker. Erneut wird in Deutschland versucht, den Menschen den Betrieb von Atomkraftwerken zur Energieerzeugung schmackhaft zu machen. Gefahren durch künftige Unfälle und die sogenannte Endlagerung des nuklearen Mülls werden für vernachlässigbar gehalten. Strahlenwirkungen im Niedrigdosisbereich werden kleingeredet oder sogar geleugnet. Die gesundheitlichen Auswirkungen des Normalbetriebs von Atomanlagen werden dabei schon gar nicht mehr beachtet. Die Bremer emeritierte Medizinphysikerin Inge Schmitz-Feuerhake und der Direktor des Instituts für Community Medicine der Universität Greifswald, Wolfgang Hoffmann, sowie Kolleginnen haben in dieser Situation in einem Bericht für den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND) unter dem Titel „Unsichtbare Opfer der Atomkraftnutzung“ die gesundheitlichen Folgen der radioaktiven Strahlung an Arbeitsplätzen und für die Bevölkerung in der Umgebung von Atomanlagen im Normalbetrieb dargestellt.

 

Hunderttausende von Arbeitskräften, vornehmlich Männer, betonen die Autor*innen des Berichts, waren und sind im Bereich der Kerntechnik beschäftigt, von der Gewinnung des Uranerzes in Bergwerken bis zur Stilllegung und dem Abriss von Atomkraftwerken. In den sogenannten hochentwickelten Industrienationen besteht häufig kein Bewusstsein mehr für die oft menschenverachtende Ausbeutung und die arbeits- und umweltbedingten Gesundheitsschäden durch den Uranabbau, wird konstatiert. In Deutschland sind im Strahlenschutzregister des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) keine Uranbergarbeiter*innen enthalten. Von den Bergleuten bei der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut in Thüringen und Sachsen in der ehemaligen DDR, dem vormals (seit 1946) drittgrößten Uranabbaugebiet der Welt, erkrankten Tausende schwer und starben einen frühzeitigen Tod infolge ihrer Beschäftigung. Betroffene dieser Langzeitfolgen hatten und haben aus historischen und strukturellen Gründen nur sehr geringe Chancen auf Schadensausgleich. So bezogen sich die für die Anerkennung als Berufskrankheit zuständigen Berufsgenossenschaften hartnäckig auf alte Gutachten des Physikers und langjährigen Mitglieds der deutschen Strahlenschutzkommission (SSK) und der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) Wolfgang Jacobi. Dieser und seine Mitarbeiter hatten in ihren fehlerhaften Modellrechnungen unter anderem einen starken Rückgang des Lungenkrebsrisikos mit der Zeit nach Exposition eingeführt. Tatsächlich können die Latenzzeiten aber mehrere Jahrzehnte betragen. Und bei Lungenfibrosen und Krebserkrankungen außerhalb der Lunge wird das Überschreiten extrem hoher Schwellenwerte verlangt, die wissenschaftlich nicht nachvollziehbar sind. Lange bevor es zur Verfügung stand, verwies die Berufsgenossenschaft zudem auf ein Programm ProZES, das für Lungenkrebs durch Radon die Daten aus der deutschen Uranbergarbeiterstudie des BfS verwendet. Diese Studie zeigt zwar, dass bei Uranbergarbeitern erhöhte Lungenkrebsraten auftreten, was seit etwa 100 Jahren als „Schneeberger Lungenkrankheit“ bekannt ist, für die der hier vorgestellte Bericht jedoch diverse Mängel auflistet.

Ein besonderes Risiko tragen bis heute die Angestellten von Fremdfirmen in Atomanlagen, deren Anzahl im Vergleich zur Anzahl der Betriebsangestellten stets sehr hoch war. Der Bericht dokumentiert detailliert die Schwierigkeiten, denen sich die sogenannten Leiharbeiter gegenübersehen. Deutschlands Ausstieg aus der Atomenergie bedeutet vorerst nicht, dass das Ende der Strahlenbelastung von Arbeitnehmer*innen absehbar ist, schreiben die Autor*innen. Bei den Abrissarbeiten stelle die Möglichkeit der Inkorporation von radioaktivem Staub ein besonderes Problem dar.

Die zahlenmäßig größten Studien zu den Auswirkungen von Strahlung erfolgten im Rahmen des Projektes INWORKS (International Nuclear Workers Study) an mehr als 300.000 überwachten Beschäftigten der Nuklearindustrie in Frankreich, Großbritannien und den USA (veröffentlicht 2015) und unter Beteiligung von neun internationalen Forschungsinstituten. In allen drei Ländern gab es ähnliche Ergebnisse: Die umfassenden Daten zeigen, dass auch niedrige radioaktive Strahlung ein Krebsrisiko verursacht. Entgegen früheren Annahmen zeigte sich, dass pro Dosis bei chronischer Niedrigdosisbestrahlung (wie sie an Arbeitsplätzen typisch ist) ein mindestens gleiches oder sogar höheres Sterblichkeitsrisiko für Krebserkrankungen als nach Kurzzeitbestrahlung (wie durch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki verursacht) besteht. Je höher die Strahlenbelastung war, desto mehr Menschen starben an Krebs. Trotzdem bilden die japanischen Atombombenüberlebenden weiterhin das Referenzkollektiv und das Strahlenrisiko wird deshalb bei der Anerkennung von Berufskrankheiten systematisch unterschätzt.

Der BUND hatte in einer Stellungnahme zum neuen Strahlenschutzgesetz von 2017 nach dem Stand der strahlenepidemiologischen Forschung eine Senkung der Dosisgrenzwerte für strahlenexponierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um den Faktor 10 gefordert. Zur Begründung wurde auch darauf hingewiesen, dass neben Krebs und Leukämie eine Reihe weiterer Erkrankungen, zum Beispiel gutartige Hirntumore und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, durch niedrige Strahlendosen erzeugt werden können. Außerdem hatte der BUND die Nichtbeachtung des genetischen Strahlenrisikos sowie die Leugnung eines Strahlenrisikos für Embryonen und Föten im Mutterleib bei Strahlendosen unterhalb von 100 Millisievert (mSv) kritisiert.

Sowohl aus Deutschland als auch international gibt es etliche wissenschaftliche Studien über Leukämieerkrankungen in der Umgebung von Atomanlagen. Ausgangspunkt waren häufig Beobachtungen von Anwohnerinnen und Anwohnern. Leukämie ist eine bekannte Strahlenfolge. Die Krankheit tritt normalerweise selten auf, besonders selten ist sie im Kindes- und Jugendalter. Atomfreundliche Wissenschaftler*innen hatten die These aufgestellt, es gebe vielfach lokale Leukämiehäufungen (Cluster) auf der Welt, ohne dass eine erkennbare Ursache vorliegen würde. Dieses vielbenutzte Argument erwies sich in der Folge als nicht haltbar. Den Höhepunkt der Debatte in Deutschland erreichte das Ergebnis der sogenannten KiKK-Studie 2007 (Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken). Bei dieser handelt es sich um eine Fall-Kontroll-Studie, die alle AKW im Zeitraum 1980 bis 2003 in der Bundesrepublik Deutschland einbezog. Gefunden wurde eine um 60 Prozent erhöhte Krebsrate und eine um 118 Prozent signifikant erhöhte Leukämierate bei Kindern unter 5 Jahren im 5-Kilometer Nahbereich der Atomkraftwerke. Zudem nimmt im Radius von 15 Kilometern mit zunehmender Wohnnähe zum Atomkraftwerk (AKW) das Erkrankungsrisiko für frühkindliche Krebserkrankungen und Leukämie zu. Offiziell wurde und wird allerdings behauptet, Strahlung könne nicht die Ursache sein, weil die Dosis zu gering sei, kritisieren die Autor*innen des Berichts.

Ähnliche Ergebnisse wie bei den Kleinkindern in Deutschland zeigen Studien im Umkreis von 5 Kilometer um AKW in Großbritannien, der Schweiz und in Frankreich.

Auch außerhalb des Zeitraums, den die KiKK-Studie berücksichtigte, sowie bei anderen Atomanlagen wurden in Deutschland Gesundheitsschäden in der Umgebung beobachtet. Außerdem traten Fehlbildungen bei Neugeborenen auf und es wurden Erhöhungen der perinatalen Sterblichkeit registriert. Weitere Untersuchungen, über die berichtet wird, fußen auf Beobachtungen von einheimischen Ärztinnen und Ärzten oder aufmerksamen Bürgerinnen und Bürgern, fanden jedoch meist wenig behördliche Beachtung oder stießen gar auf behördlichen Widerstand, wie das Leukämiecluster in der Elbmarsch.

Weitere Beispiele aus anderen Ländern bilden das Leukämiecluster bei der britischen Wiederaufarbeitungsanlage für Kernbrennstoffe Sellafield (entdeckt 1984), bei der französischen Wiederaufarbeitungsanlage La Hague sowie Befunde aus den USA, Kanada, Russland und Japan. Auch für die Sowjetunion bzw. Russland ergab sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eine kurze Epoche von internationaler Zusammenarbeit. Der BUND-Bericht führt die kerntechnischen Anlagen Mayak im Südural im Bezirk Tscheljabinsk und bei der Stadt Seversk in Sibirien auf, nach Angaben der im Bericht zitierten Autoren der größte Nuklearkomplex der Welt.

Bei den national und international wiederholt beobachteten Gesundheitsschäden im Nahbereich von Atomanlagen, die durch niedrige Strahlendosen induzierbar wären, wird ein Zusammenhang mit Radioaktivität offiziell stets mit dem Argument abgelehnt, die Emissionen der Atomanlagen seien dazu zu gering, beklagen die Autor*innen des Berichts. Dieses Argument sei aber nicht plausibel und wissenschaftlich nicht belegbar. Zum Beispiel habe die SSK bei der Bewertung der KiKK-Studie erklärt, dass für die ermittelte Verdopplung der Leukämierate bei Kindern unter 5 Jahren innerhalb des 5 Kilometer-Radius der AKW eine mittlere Dosis von mindestens 10 mSv erforderlich wäre. Laut einer SSK-Verlautbarung aus dem Jahr 2008 sei aber die Strahlenexposition der Referenzperson durch die Ableitungen radioaktiver Stoffe aus den AKW so niedrig, dass die beobachteten erhöhten relativen Risiken für Leukämie in den 5 Kilometer-Radien der AKW der KiKK-Studie damit nicht erklärt werden könnten.

Unsicherheiten um einige Größenordnungen sind jedoch zum Beispiel bereits durch das Lungenmodell der ICRP vorprogrammiert, das zur Ermittlung der Organdosen bei Inhalation verwendet wird, merken die Autor*innen des Berichts an. Das Lungenmodell der ICRP umfasst 482 Seiten (ICRP 1994) und war Anlass für weitere umfangreiche Forschungen zu den einzelnen eingehenden Parametern. M.A. Roy von der französischen Behörde für Strahlenschutz und Reaktorsicherheit (1998) ermittelte durch Variation der Parameter in ihren angenommenen Unsicherheitsbereichen, dass der Vertrauensbereich des Ergebnisses je nach Nuklid bis zum Hundertfachen und mehr umfassen kann, also das Verhältnis zwischen kleinstem und größtem Wert im 90%-Wahrscheinlichkeitsbereich. Wissenschaftler*innen, die für staatliche Strahlenschutzbehörden in Frankreich, Großbritannien und den USA arbeiten beziehungsweise gearbeitet haben, weisen auf die große Komplexität der physikalischen, chemischen und physiologischen Eigenschaften hin, die simuliert werden müssen. Sie stellen auch dar, dass die Ergebnisse für die Referenzperson nur für Strahlenschutzzwecke verwendet werden sollten, für epidemiologische Untersuchungen seien die Unsicherheiten bei den Parametern und die individuellen Unterschiede zu berücksichtigen. Das steht im Widerspruch zur Aussage der SSK.

Wenn der Dosisgrenzwert für die Bevölkerung jeweils wirklich konstant weit unterschritten worden wäre, dürften gesundheitliche Folgen tatsächlich bei der verhältnismäßig geringen Größe der beobachteten Kollektive statistisch nicht erkennbar sein, heißt es im hier vorgestellten Bericht. Die Erfahrungen zeigten aber, dass kleinere Freisetzungen und Leckagen nicht vermieden werden können. Zudem werden jeweils nur die Mittelwerte der Emissionen betrachtet, höhere Freisetzungen in kurzen Zeiträumen sind aber nicht auszuschließen. Darüber hinaus erfolgen auch bei der Ermittlung der Dosis aus den Freisetzungen eine Reihe von Mittelungen und Vereinfachungen, so dass die real erhaltene Dosis für einzelne Menschen, insbesondere für Säuglinge und Kinder, größer sein kann.

Auch wenn sich der Befund der KiKK-Studie und anderer vergleichbarer Studien mit der bisherigen Methodik zur Ermittlung der Wirkung ionisierender Strahlung auf den menschlichen Organismus nicht erklären lässt, folgt daraus nicht zwangsläufig, dass niedrige Dosen ionisierender Strahlung als Ursache für Leukämie und Krebserkrankungen ausgeschlossen werden dürfen, so die Autor*innen des Berichts. Daraus folge eher, dass die Methodik Defizite aufweist und das Wissen im Bereich der Strahlenwirkung noch lückenreich ist.

Eine Tatsache ist jedoch bekannt, ein Betrieb von Atomanlagen und ein Umgang mit radioaktiven Stoffen ist auch bei Einhaltung der Dosisgrenzwerte der Strahlenschutzverordnung mit Risiken verbunden. Auch unterhalb der Dosisgrenzwerte gibt es ein Risiko für später tödlich verlaufende Krebserkrankungen und Schäden bei den Nachkommen. Das Risiko wird umso größer, je größer die Dosis ist. Zudem wird zunehmend deutlich, dass auch andere Krankheiten in Zusammenhang mit ionisierender Strahlung stehen. Die Beachtung von Gesundheitsschäden und vorzeitigen Tod durch den „Normalbetrieb“ von Atomanlagen müsse daher bei der Abwägung von Risiken und Nutzen der Atomenergie einfließen, fordern die Autor*innen in ihrem Bericht.

Der Bericht schließt mit einem Appell: Die seit Beginn der sogenannten friedlichen Nutzung der Atomenergie dominierende Vertuschungs- und Verharmlosungsstrategie hat auf allen Gebieten des Strahlenschutzes, beim sogenannten Normalbetrieb von Atomanlagen, aber auch in der medizinischen Diagnostik viele Opfer gefordert und es besteht die Gefahr, dass sich dies fortsetzt. Das gilt über die kommenden Jahrzehnte besonders für den Rückbau von Atomkraftwerken. Hier braucht der Strahlenschutz für Beschäftigte und die Bevölkerung eine stärkere Berücksichtigung der immer weiter zunehmenden Evidenz aus der internationalen Forschung und Wissenschaft zur Auswirkung der Niedrigstrahlung. Ein rationaler Umgang mit den Risiken ionisierender Strahlung muss jetzt beginnen und auch die Zwischen- und Endlagerung der radioaktiven Abfälle umfassen.

Inge Schmitz-Feuerhake, Wolfgang Hoffmann, Oda Becker, Karin Wurzbacher: Unsichtbare Opfer der Atomkraftnutzung – Strahlende Arbeitsplätze und Umgebungskontaminationen. BASK Atom- und Strahlenkommission des BUND, September 2022: https://bund.net/studie-akwbetrieb