Claudia Baitinger, Mitglied BUND Atom- und Strahlenkommission, Sprecherin des AK Atom des BUND NRW
Heute erleben wir die weitgehend von der Öffentlichkeit unbemerkte Praxis, gemäß der Strahlenschutzverordnung [1] Abfälle aus dem Rückbau von Atomkraftwerken per Definition zu „nicht mehr Atommüll“ durch „Freigabe“ (§ 8 StrlSchV) oder „Freimessen“ (§ 29 StrlSchV) zu erklären, den man dann billig u.a. auf Hausmülldeponien verscharren, in Baustoffen, im Straßenbelag, auf Kinderspielplätzen, in Zahnspangen, Bratpfannen, Jeansknöpfen und Musikinstrumenten unterbringen oder - einfach - vergessen kann. [3 veränd.] Am Beispiel der Skandaldeponie Ihlenberg (früher Schönberg) östlich von Lübeck ist diese mehr und mehr übliche Praxis der sogenannten Entsorgung umdeklarierter “freigemessener“ radioaktiver Abfälle in der Zeitschrift Strahlentelex dokumentiert [2] [3] [4]. Inzwischen sind Radionuklide des Strahlenmülls aus dem stillgelegten AKW Lubmin bereits im Sickerwasser der Deponie nachweisbar – die Zeitbombe tickt – und nicht nur hier! [5]
Bereits in ihrer „Bremer Erklärung“ vom 10. Juni 2000 warnte die Deutsche Gesellschaft für Strahlen-schutz rechtzeitig vor den fatalen Folgen der damals geplanten Novellierung der Strahlenschutzverord-nung, mit der (unserer Auffassung nach) die Zustimmung der Atomindustrie für den sogenannten Atomausstieg erkauft werden sollte - allen Protesten von Wissenschaftlern und Umweltverbänden zum Trotz.
„Mit der näherrückenden Stilllegung von kerntechnischen Anlagen und ihrem Abriss kommen auf die Betreiber Kosten zu. (...) Es überrascht nicht, dass die Betreiber auf Regelungen drängen, die eine billige Entsorgung des kontaminierten Mülls ermöglichen.
Aus der Sicht der Bevölkerung, der Medizin und des Strahlenschutzes ist es jedoch absurd und inakzeptabel, zuzulassen, dass radioaktiv belasteter Müll mit niedrigem Aktivitätsniveau in großen Mengen für immer aus der Überwachung herausgenommen und verteilt werden soll, um dann Stück für Stück dazu beizutragen, die Strahlenbelastung der Bevölkerung zu erhöhen. Niemand wird in der Lage sein, die schleichende Vergiftung, die über Generationen andauern wird, im Einzelfall nachzuweisen. Es wird keine unbelastete Kontrollgruppe mehr geben, an der man diesen Vergiftungsprozess messen könnte.
Die bisherige Geschichte des Strahlenschutzes war eine Geschichte von Fehleinschätzungen, Ignoranz und Zynismus gegenüber den Opfern. Niemand kann heute garantieren, dass die Einschätzungen des Strahlenrisikos nicht noch weiter ansteigen. Was heute zwar nicht schön, aber auch nicht allzu gefährlich aussieht, kann sich morgen schon als schwerer Fehler erweisen, der dann nicht mehr behoben werden kann.
Es besteht nicht die geringste Veranlassung für die Bevölkerung, zusätzlich zum vollen Risiko einer Atomkatastrophe auch noch freiwillig die Risiken einer billigen und deshalb unsicheren Unterbringung des Atommülls zu übernehmen.“ [6]
Weitgehend unbemerkt von Bürgerinnen und Bürgern erlangte die Verordnung am 20. Juli 2001 dennoch Rechtskraft [7] [8] [9]
Das Bundesamt für Strahlenschutz und die Strahlenschutzkommission der Bundesregierung begleiteten den Paradigmenwechsel im deutschen Strahlenschutzrecht durch Zahlenwerke und Veröffentlichungen, die die Unbedenklichkeit der neuen Regelungen dokumentieren sollten, flankiert von einer Politik, die die wirtschaftliche Notwendigkeit einer billigen „Entsorgung“ von großen Teilen des Atommülls angesichts des als „Atomkonsens“ vereinbarten Rückbaus stillgelegter AKWs bejahte und die sich der Möglichkeit der Freigabe zwecks Rezyklierung, Verbrennung und Deponierung als dem heiß ersehnten „Entsorgungs-nachweis“ einen Schritt näher sah, denn die Errichtung und der Betrieb eines AKW war damals noch blauäugig an einen „Entsorgungs“nachweis des anfallenden Atommülls gekoppelt – eine Fata Morgana, von der man sich längst verabschieden musste.
In Heft 54 der SSK-Reihe „Freigabe von Stoffen zur Beseitigung“ und in der entsprechenden Pressemitteilung aus 2007 ist demnach zu lesen:
„Die Arbeitsgruppe „Freigabe“ der Ausschüsse „Radioökologie“ und „Strahlenschutztechnik“ der SSK hat dieses Forschungsvorhaben zur Fortentwicklung des radiologischen Modells zur Berechnung von Freigabewerten für die Freigabe zur Beseitigung begleitet. (…) Außerdem wurde bei der jährlich angenommenen Masse freigegebener Abfälle, die einer einzelnen Entsorgungsanlage zugeführt wird, berücksichtigt, dass in Zukunft verstärkt Rückbauvorhaben mit großen Abfallströmen relevant werden können und durch die Modellierung abgedeckt sein sollen.“ - „Das Schutzziel soll auch am Standort der Entsorgungsanlage eingehalten werden. Die zuständige Behörde kann aufgrund der Konservativität des Modells davon ausgehen, dass dieses Schutzziel eingehalten ist. Es ist daher aus Sicht der SSK nicht erforderlich, Parameter dieses Modells als Randbedingungen im Freigabeverfahren festzulegen.“ [10]
Es tritt zunehmend ein, was Dr. Sebastian Pflugbeil, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz, bereits 2001 angesichts der Verabschiedung der „rotgrünen“ Strahlenschutzverordnung voraussagte:
- „die vorgegebenen Kriterien zum Schutz der Bevölkerung können nicht einmal theoretisch ermittelt werden, weil die relevanten Daten fehlen;
- die Schutzkriterien können mit Sicherheit auch praktisch nicht eingehalten werden;
- die StrlSchV öffnet den Betreibern kerntechnischer Anlagen riesige Hintertürchen durch die sie Atommüll ohne jegliche Kontrolle, ohne lästige Auflagen billig verschwinden lassen können;
- die BRD wird unweigerlich von einem Schleier von Atommüll überzogen werden;
- die Folgen für Gesundheit und Leben der Bevölkerung werden schwer wiegen;
- es wird unmöglich sein, die Verursacher von Gesundheitsschäden Jahre nach der Verteilung des Atommülls ausfindig zu machen – sie hätten ja auch nicht gegen die Strahlenschutzverordnung verstoßen;
- es wird unmöglich sein, später – wenn man das perfide System verstanden hat und die Folgen spürt – den Atommüll wieder zurückzuholen, niemand weiß, wo er geblieben ist;“ [11]
Auch Traute Kirsch, bis zu ihrem Tod 2005 langjährige atompolitische Sprecherin des BUND Landesverbandes NRW und über Jahrzehnte eine bundesweit bekannte Persönlichkeit der Anti-Atomkraft-Bewegung, warnte rechtzeitig vor dem Billigkonzept der Freigabe:
„Im übrigen sind nach der Entfernung des Etikettes "radioaktiv" vom radioaktiven Müll die Belastungen der Menschen sowieso nicht mehr überprüfbar - geschweige denn kontrollierbar. Verursacher und Zusammenhänge für radioaktive Belastungen lassen sich nicht nachweisen. Was uns da vom bündnisgrünen Umweltminister präsentiert wird, ist eine Mogelpackung, deren Inhalt uns unlösbare Probleme bescheren wird.“ [12]
Im nunmehr vorliegenden Sorgenbericht werden zwar die Atomanlagen im Einzelnen beschrieben, die Brennstoffe herstellen, Atommüll produzieren, ihn lagern und ihn offiziell durch Konditionierung behan-deln. Was systembedingt jedoch fehlt – und das ist der politische Wille des Gesetz- und Verordnungsgebers – sind die Angaben von Deponien, Müllverbrennungsanlagen, Versatzbergwerken, Bauschutt-Recyclingbetrieben, Baumaterialienhersteller, Hochöfen, Gießereien, Sekundärmetallverarbeiter, u.v.m., die den schwach radioaktiven Abfall bundesweit streuen. Auch wenn jetzt im Bereich der Abfallverbrin-gung die zuständige Abfallbehörde im Verfahren zu beteiligen ist, so ändert das nichts an der Tatsache einer allmählichen flächendeckenden Kontamination mit Radionukliden. Für das Trinkwasser bedeutet das eine Form der „organisierten Brunnenvergiftung“ [2]
Wir machen uns Sorgen! Wir lassen uns nicht durch das sogenannte 10 Mikrosievert-Konzept täuschen. Es ist eben nicht möglich, „Abschätzungen darüber zu machen, ob die Bevölkerung mit mehr oder weniger als 10 Mikrosievert im Jahr durch diese freigegebenen Abfälle belastet wird – dazu müsste man nämlich wissen, welche Gesamtaktivität freigegeben wird“ [11]. Aus dem gleichen Grund sind ebensowenig Angaben zur Kollektivdosis möglich. Jegliche Beklagung dieser Verschleierungs-Rechtspraxis läuft ins Leere, da gerichtsfeste, durchsetzbare Grenzwerte überhaupt nicht vorgesehen sind, was Teil des Konzeptes ist.
Bürgerinnen und Bürgern, BIs, INIs und Umweltverbänden kann nur geraten werden, nach Umweltinfor-mationsgesetz unnachgiebig nach dem Verbleib des Abraums von AKW-Rückbauten zu fragen, in Genehmigungsverfahren von Abfallbehandlungsanlagen und Metall verarbeitenden Betrieben Anträge auf Nichtverwendung von AKW-Abfällen zu stellen und das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. Der Sorgenbericht ist dazu eine geeignete Informationsquelle.
Quellen:
[1] Strahlenschutzverordnung 2001, Stand 2012
[2] www.strahlentelex.de/Stx_10_564_S02-03.pdf
[3] www.strahlentelex.de/Stx_10_570_S09-10.pdf
[4] www.strahlentelex.de/Stx_13_638-639_S06-07.pdf
[5] Stellungnahme des BUND zur Erweiterung der Hausmülldeponie Höxter-Wehrden wg Rückbau AKW Würgassen (Baitinger Mai 2013)
[7] www.strahlentelex.de/Stx_01_348_S06-07.pdf
[8] www.strahlentelex.de/Stx_01_352_S01-03.pdf
[9] www.strahlentelex.de/Stx_05_444_S01-03.pdf
[10] Berichte der Strahlenschutzkommission Heft 54 „Freigabe von Stoffen zur Beseitigung“
[12] Traute Kirsch: „Irreführung der Öffentlichkeit“ Club Voltaire 1.6.2000