Atomkraft in Europa im Aufwind?

Seit Monaten wird das Gespenst von Blackouts an die Wand gemalt, befeuert von Forderungen an Weiterbetrieb und Wiederinbetriebnahme von Atomkraftwerken, die oft jeglichen technischen Sachverstand vermissen lassen und befeuert von dem Willen, Tatkraft zu beweisen. Dass dabei Errungenschaften der Umweltpolitik der letzten Jahrzehnte unwiederbringlich Schaden nehmen könnten, scheint völlig in den Hintergrund zu treten. Gleichzeitig werden in immer mehr europäischen Staaten rechtsnationale Regierungen gewählt, die der Atomenergienutzung das Wort reden. Gründe genug, den Atomenergiesektor in Europa unter die Lupe zu nehmen.

Ausgerechnet Frankreich, das mit seiner einseitigen Orientierung auf Atomkraft seinen Energiesektor sowohl technisch als auch wirtschaftlich völlig vor die Wand gefahren hat und Monat für Monat Strom importieren muss, will weiterhin auf Atomkraft setzen. Im Februar 2022 kündigte Präsident Macron den Bau von sechs Reaktoren des Typs Europäischer Druckwasserreaktor (EPR) 2 an. Der Bau weiterer acht Reaktoren solle geprüft werden. [1] Die französische nationale Kommission für die Öffentlichkeitsbeteiligung (Commission nationale du débat public, CNDP) soll bis 27. Februar 2023 elf Veranstaltungen zur Information der Bevölkerung über die Atomstrategie Präsident Macrons und über den Neubau von zwei Reaktoren (vermutlich in Penly an der französischen Kanalküste) durchführen. [2]

Dabei sollte Frankreich gewarnt sein, ist doch das einstmalige Vorzeige-Projekt, der AKW-Neubau des Europäische Druckwasserreaktor (EPR) 1 in Flamanville, zu einem Desaster geworden. Die Kosten haben sich bisher versechsfacht, von 3,3 Mrd. Euro auf geschätzt 19,1 Mrd. Euro. Die ursprünglich für 2012 geplante Inbetriebnahme ist gegenwärtig auf 2024 verschoben. [3] Im britischen Hinkley Point sieht es nicht besser aus. Hier baut der französische Energiekonzern Electricité de France (EdF) zwei Reaktoren ebenfalls des Typs EPR 1. Statt 2021 sollen die AKW frühestens 2027 in Betrieb gehen, statt 21,5 Mrd. Euro werden sie mindestens 30,5 Mrd. Euro kosten. [4] Und auch die kommerzielle Inbetriebnahme des finnischen AKW Olkiluoto-3 - ebenfalls ein französischer EPR 1 - verschiebt sich unerwarteter Weise erneut. Aufgrund eines Schadens an den Speisewasserpumpen liefert das AKW frühestens Ende Januar 2023 Strom. [5] Das AKW Olkiluoto-3 kostet statt des vereinbarten Fixpreises von 3 Mrd. Euro mittlerweile 9 Mrd. Euro, die Bauzeit hat sich von 4 auf nun mehr als 17 Jahre verlängert. [6] 

Auch in den osteuropäischen Staaten wird zumindest in politischen Reden auf den Neubau von Atomkraftwerken gesetzt. Litauen, das nach der Abschaltung der beiden Atomreaktoren in Ignalina seit 2009 keinen Atomstrom mehr erzeugt, liebäugelt mit einem Neubauprojekt unter Beteiligung der anderen baltischen Staaten und Polens. [7] Die polnische Regierung hat im Oktober 2022 den US-Konzern mit dem Bau dreier Reaktoren in der Nähe der Ostseeküste beauftragt. Geplante Inbetriebnahme 2033. [8] Bis zum 13. Dezember können deutsche Bürger:innen im Rahmen einer grenzüberschreitenden Öffentlichkeitsbeteiligung Stellungnahmen abgeben. [9] In Ungarn verkündete die Orban-Regierung im August 2022, dass der russische Staatskonzern Rosatom zwei Reaktorblöcke in Paks bauen soll. [10]

In der Realität sind in der EU neben Flamanville in Frankreich nur zwei weitere Reaktoren in der Slowakei im Bau. Bei den beiden Reaktorblöcken Mochovce 3 und 4 handelt es sich um eine Altlast: Baubeginn 1987, Baustopp 1993, Wiederaufnahme 2009. [11] Mochovce 3 ist seit Oktober 2022 im Probebetrieb. Allerdings hat die österreichische Umweltorganisation GLOBAL 2000 Anfang November Strafanzeige gegen die slowakische Atomaufsicht gestellt. GLOBAL 2000 wurden Dokumente und Fotos zugespielt, die Sabotage, fehlende Schweißnähte und Verwendung minderwertigen Materials belegen. "Nach Aussage der Whistleblower kommt es sogar zur Durchrostung von Schweißnähten an Rohrleitungen, die aus Kosten-Gründen in krimineller Absicht mit minderwertigem Material ausgeführt wurden." Die slowakische Kriminalpolizei ermittelt bereits seit drei Jahren wegen Korruption, Betrug und Datenfälschungen durch Top-Manager in Mochovce. [12] Mochovce 4 soll laut aktueller Planung 2024 in Betrieb gehen. Diese alten Reaktoren haben noch nicht einmal einen Sicherheitsbehälter (Containment) der im Katastrophenfall den Austritt von Radioaktivität in die Umwelt beschränken soll. [11]

Außerhalb der Europäischen Union werden derzeit auf dem europäischen Kontinent vier Reaktorblöcke im türkischen Akkuyu (an der Mittelmeerküste gegenüber Zypern), ein Reaktorblock in Belarus (Ostrowets 2) und drei in Russland (Kursk 2-1, 2-2, Baltic-1) gebaut - alle acht durch den russischen Konzern Rosatom.

Es bleibt abzuwarten, ob die EU-Taxonomie die Investitionstätigkeiten im Atomenergiesektor erhöhen wird. Im Juli 2022 hatte das EU-Parlament entgegen dem Votum des Umwelt- und Wirtschaftsausschusses beschlossen, Investitionen in Gas und Atomkraft als klimafreundlich zu erklären und damit zu erleichtern. [13] Diese Regelung tritt zum 1.1.2023 in Kraft. Doch dagegen gibt es Widerspruch. Im September 2022 hat Greenpeace die EU-Kommission per Antrag aufgefordert, die Klassifizierung von Erdgas und Atom als nachhaltig zurückzunehmen. Sie stehe im Widerspruch zur Taxonomie-Verordnung selbst. Folgt die Kommission dem Antrag nicht, will Greenpeace vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Es wäre die erste Gemeinschaftsklage dieser Art auf europäischer Ebene. [14]

Letztlich kann man sich auf eines verlassen: AKW-Projekte werden teurer als geplant, werden sich verzögern oder sogar aufgegeben. Mycle Schneider, Herausgeber des World Nuclear Industry Status Report (WNISR), erläuterte im November 2022 vor dem Umweltausschuss des deutschen Bundestages, dass jedes achte begonnene Projekt in der Atomkraftgeschichte in mehr oder weniger fortgeschrittener Phase zur Bauruine wurde und hunderte von Bestellungen bereits vor Baubeginn wieder annulliert wurden. Zuletzt wurde im Mai 2022 der Bau des finnischen Reaktors Hanhikvi-1 annulliert. [15]

Unterm Strich gibt es in Europa mehr Stilllegungen als Inbetriebnahmen von Atomkraftwerken. In den letzten drei Jahren haben zwei Reaktoren den kommerziellen Betrieb aufgenommen, einer in Russland und einer in Belarus. Dem stehen 14 endgültige Abschaltungen in den Jahren 2020, 2021 und 2022 gegenüber. Sechs Reaktoren wurden in Großbritannien stillgelegt, drei in Deutschland, zwei in Frankreich und je einer in Russland, Schweden und Belgien. [16] 

Quellen

[1] Vive l'Atomkraft, sueddeutsche.de, 10.02.2022

[2] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz: Informationsveranstaltungen zur französischen Atomstrategie, 28.10.2022

[3] Radio Dreyeckland: Erneutest Desaster beim AKW-Pojekt Flamanville, 22.03.2021

[4] Wieder Atomkraft-Ärger für die EDF, nun in Großbritannien. Telepolis, 24.05.2022

[5] Erneute Verspätung bei finnischem Atomreaktor Olkiluoto-3, Handelsblatt, 22.11.2022

[6] heise.de: Atomkraft: Finnischer Reaktor Olkiluoto-3 geht in Betrieb, 23.12.2021

[7] Global 2000: Atomkraft in Litauen, abgerufen 13.11.2022

[8] tagesschau.de: Energiepolitik: Polen lässt erstes AKW von US-Firma bauen, 29.10.2022

[9] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz: Polens Pläne für den Einstieg in die Atomenergie, 20.10.2022

[10] Wiener Zeitung: Ungarn kündigt Baustart von Atomkraftwerk Paks II an, 26.08.2022

[11] wikipedia: Kernkraftwerk Mochovce, abgerufen 13.11.2022

[12] ots.at: Global-2000 zeigt slowakische Atomaufsicht wegen Kontrollversagen an 01.11.2022

[13] Greenpeace: Greenwashing durch EU-Taxonomie, 18.09.2022

[14] Greenpeace klagt gegen die EU-Taxonomie, 29.09.2022

[15] Mycle Schneider: Stand und Trends der Atomkraft in der Welt, Kurzstellungnahme vor dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, 08.11.2022

[16] pris.iaea.org, abgerufen 13.11.2022

[17] Atomreaktor Doel: Belgien schaltet umstrittenen Meiler ab, zdf.de, 24.09.2022